Einflussreichster Theoretiker der Architekturgeschichte.
Über den historischen Vitruv weiß man genau genommen kaum etwas,
- weder seinen vollständigen Namen (d.h. nicht seinen genauen Vor- und Cognamen, in der Literatur wird er oft Marcus Vitruvius Polio genannt,
- noch seine genaue Lebenszeit (als Geburtsjahr werden etwa 84 v.Chr., aber auch die Zeit um 70-60, bzw. um 55 v.Chr. angegeben, als Todesjahr 10 oder 27 v. Chr., bzw. 14 n. Chr. Diese Unsicherheit macht seine geringe Bedeutung zu Lebzeiten deutlich),
- keine weiteren Lebensdaten (Man leitet die vermuteten nur aus seinen Schriften ab. In der antiken Literatur wird er so gut wie nie genannt, u.a. kurz von Plinius d.Ä. erwähnt).
- 44 v Chr.:
Übernahme in das Heer des Augustus (nach der Ermordung Caesars).
- um 33 v. Chr.:
Entlassung aus dem Heerdienst. Weiterarbeit am Bau des Wassernetzes für die Stadt Rom.
- etwa 33 - 22 (22 - 14) v. Chr.
(abgeleitet aus Angaben in seinem Werk) entstand sein Buch "De Architectura", das aus 10 Teilen (Büchern, Kapiteln) besteht,
auch nicht seine genaue Stellung als Ingenieur für Kriegsmaschinen im Heer Cäsars und Augustus (Sie kann nicht völlig unbedeutend gewesen sein, da ihm nach seinem Ausscheiden aus dem Heer eine so hohe Rente zugesprochen wurde, dass er gut von ihr leben konnte. Seine eigene Abwertung in seinen Vorwörtern muss man im Sinne der antiken Proömium lesen, mit deren Hilfe die damaligen Redner die Zuneigung ihrer Zuhörer zu erringen versuchten (als "captatio benevolentiae" - einem "Haschen nach Wohlwollen").
Bekannt von ihm geworden sind:
- eine Architekturtheorie, die "Zehn Bücher über Architektur" ("De architectura libri decem", kurz nur "De Architectura" genannt). Dabei kennt man nicht die Reihenfolge der Entstehungsgeschichte ihrer Teile. Auch wurden die Vorreden wahrscheinlich nachträglich verfasst. (Er widmete sein Werk Kaiser Augustus aus Dank für die gewährte Pension: Vorrede 1. Buch).
- als einziges Bauwerk eine Basilika in Fano (früher "Fanum Fortunae", von ihm selber in seinem 5. Buch genannt).
Man geht davon aus, dass seine Schriften zu Lebzeiten nur eine begrenzte Bedeutung besessen haben, da er in ihnen auf die baulichen Hauptprobleme seiner Zeit im römischen Reich nicht oder nur am Rande eingeht, d.h. auf die damalige
- Ziegelbauweise,
- Gewölbetechnik,
- den Stockwerkbau.
Über die Verbreitung seiner Texte zu Lebzeiten weiß man nichts. Seine für die damalige Zeit zu technisch orientierte Sprache dürfte einer größeren Verbreitung seiner Texte entgegen gestanden haben. Er dürfte auf die Bauweise der frühen Kaiserzeit keinen Einfluss besessen haben.
Vitruvs Bedeutung für uns leitet sich aus der Stellung seines Buches in der Architektur-geschichte ab:
- Es ist die einzige erhaltene Darstellung über die antike Architektur und Bautechnik. Vitruv fasst in ihr alle hellenistischen und römischen Erkenntnisse des Bauwesens seiner Zeit zusammen. Später wurden daraus besonders bedeutsam:
- Seine Lehre von den Säulenordnungen.
- Seine Lehre von den menschlichen Proportionen in Bezug auf die Architektur. Darüber hinaus
- beschreibt er als erster die Wellennatur der Töne.
(Dabei nennt er eine Vielzahl antiker Autoren und bietet ein Schlüsselwerk für das Verständnis der antiken Architektur).
Ein erstes Interesse für ihn ist aus der karolingischen Zeit bekannt. Einhart kannte ihn bereits. Inwieweit diese Kenntnisse beim Bau seiner Basiliken in Steinbach und Seligenstadt eingegangen sind, ist nicht bekannt.
In der ottonischen Architektur hat er wahrscheinlich auf den Bau von St. Michael in Hildesheim einen Einfluss gehabt. Dies wird angenommen, weil die älteste bekannte Vitruv-Abschrift von dessen erstem Abt Goderammus stammt. In dieser Kirche vereinen sich ideal die antike Formensprache mit der ottonischen Architektur.
Im Mittelalter dürfte sein Werk besonders in der Baupraxis bedeutsam gewesen sein. Dies ergibt sich aus der Vielzahl der damaligen Abschriften, von denen über 50, teilweise illustrierte, noch heute erhalten sind. Auf die Ästhetik der Romanik und Gotik haben sie allerdings kaum einen Einfluss gehabt.
Im Hochmittelalter ist er dagegen in Italien kaum beachtet worden. Das Interesse an ihm wurde erst durch die Humanisten geweckt, für die er die einzige literarische Quelle darstellte. Mit ihnen entdeckten ihn dann auch die Künstler und deren Auftraggeber für sich. Die gesamte Architektur des 15. Jhs (Quattrocento) stand unter seinem Einfluss. Ab jetzt bestimmten Vitruvs Angaben zur Ästhetik die gesamte Architektur bis einschließlich des Barocks, und man setzte sich mit seinen Gedanken bis in die Gegenwart auseinander (z.B. Corbusiers: Modulor).
Als erste verwiesen die frühen Humanisten wieder auf ihn (besonders Petrarca und Boccaccio). So nahm die Kenntnis der Schriften Vitruvs einen unmittelbaren Einfluss auf den
- Wiederaufbau des Schlosses in Neapel (1442,43),
- Aufbau von Pienza (1459-1464).
- Alberti baute nicht nur inhaltlich, sondern auch formal auf ihn auf. Er übernahm von ihm dessen Einteilung in zehn Bücher, die Terminologie, die historischen Fakten, antiken Bautypen und technischen Details. Kritisch sah er dessen Unklarheit in der Terminologie (im Gebrauch seiner Fachausdrücke. Vitruv hatte deren Klarheit in seinem 1. Buch ausdrücklich selber gefordert).
- Francesco die Giorgo orientierte sich an Vitruv (der dann später Leonardo da Vinci stark beeinflusste). Ebenfalls Bramante und Michelangelo (z.B. beim Bau des Petersdomes).
- Vignola (1507 - 1573) "La regola delli cinque ardini d'architettura" (1562):
Jacopo barozzi da Vignola: Führender Architekt nach Michelangelo in Rom. Beeinflusste entscheidend die Gartenkunst der Renaissance
(Villa Farnese in Caprarola, Villa Guilio in Rom, Villa Lante in Bagnaia, Farnese-Garten in Rom). Sein "Lehrbuch der fünf architektonischen Ordnungen" war sehr verbreitet. In der Spätrenaissance bauten dann auf seinen Angaben die Architekturtheorien von:
- Sebastiano Serlio "Regole generali di architettura" (1537):
Serlio (1475 - 1554): Er beobachtete, dass die Angaben Vitruvs mit den antiken Bauten oft nicht übereinstimmten. Was ihm im Umgang mit Vitruv eine große Freiheit gab.
Besonders auf Serlio geht die Lehre von den Säulenordnungen zurück (in seinem 4. Buch, 1537). Indem er den Architekten die Freiheit zusprach, deren Formen und Elemente zu mischen, leitete er den Manierismus ein. Serlio beeinflusste entscheidend für ein Jahrhundert den Palastbau in Frankreich.
- Andreas Palladio "I quattro libri dell'achitettura" (1570):
Palladio (1508- 1580): Er war der erste ausschließliche Berufsarchitekt. Er orientierte sich besonders an der symmetrischen Harmonie der antiken Bauten. Er erfand u.a. die "ideale" Villa und übertrug den Tempel-Portikus erstmals vor ein Wohnhaus. In seinen Büchern stellte er die Proportionsregeln der antiken Bauten dar, die später als Kanon oft blindlings befolgt wurden (mit denen er selber aber oft großzügig umging).
Als Palladianismus erlangte er in England einen großen Einfluss (= Verwendung von Palladio-Motiven), und dann als Neopalladianismus besonders im 18 Jh.. Lord Burlington veröffentlichte mehrere Bücher, deren Regeln in England zum Vorbild für die damalige Architektur wurden. In Deutschland hat sich Knobelsdorff stark an ihnen orientiert.
- Vincenzo Scamozzi "L'idea della architettura universale" (1615).
Ihre Arbeiten beherrschten dann die europäische Baukunst in den nächsten Jahrhunderten). Während man im 15. Jh. mit den Angaben Vitruvs noch relativ frei umging, wurde er im 16. zunehmend dogmatisiert. In der Spätrenaissance hatte dann Guarini (1624 - 83, Turin) die Architekturtheorie aus ihrer Erstarrung gelöst, indem er die Regeln Vitruvs (und Vignolas) für nicht verbindlich erklärte und damit in der Architektur einem ästhetischen Relativismus den Weg öffnete.
Mit der Ausdehnung der Renaissance über die italienischen Grenzen hinaus wurde Vitruv auch im übrigen Europa beachtet und beherrschte auch dort die Architekturdiskussionen bis ins 18. Jh.. Sein Einfluss nahm erst mit dem Versuch der Pariser Akademie ab, eine eigene nationale französische (Bau-)Ordnung zu schaffen. Man las zunächst eine Vitruv-Übersetzung (1674-76) und versuchte ihn dann zu unterlaufen, indem man eigene Proportionsregeln zu schaffen versuchte und dabei dessen Symmetriebegriff inhaltlich teilte
- in eine "Symmetrie im Sinne von Axialität" (Sie wurde jetzt zum wichtigsten Kriterium für Schönheit und für lange Zeit zum Dogma der Architektur, - bis in die Klassik hinein) und
- in "Proportionen als willkürliche soziale Verabredungsgrößen" (entstanden aus Gewohnheiten und Traditionen), die eigene Proportionsregeln erlaubten.
Obwohl Vitruvs Text im Mittelalter bekannt gewesen war, erfuhr er erst seine große Popularität durch Gianfrancesco Poggio Braccioline, der 1416 in St. Gallen auf eine Abschrift gestoßen war.
- 1486 erste gedruckte Ausgabe (der Buchdruck war erst um 1450 in Deutschland erfunden worden. Ausgabe war noch ohne Abbildungen).
- 1511 erster illustrierter Druck (mit 36 groben Holzschnitten. Er wurde für alle späteren Ausgaben bestimmend).
- um 1514: Raffael will Vitruv illustrieren (es kam dann aber nicht dazu).
- 1542 Konstituierung einer vitruvianischen Akademie (Mitglied u.a. Vignola).
- 1543 (Nürnberg) erste lateinische Ausgabe in Deutschland.
- 1548 erste kommentierte deutsche Übersetzung (jetzt mit 193 feineren Holzschnitten).
- Noch Sckell fordert bei der Errichtung von Staffagen (d.h. antiken Tempelanlagen) in den Parkanlagen eine Orientierung an Vitruv.
Vitruvs Werk besteht aus 10 "Büchern" (besser für das Verständnis: 10 Kapiteln), die jeweils aus einem kurzen Vorwort und einem ca. 10mal so langen Ausführungsteil bestehen. Die ersten sieben Bücher beschäftigen sich mit den Tätigkeiten eines Architekten: U.a.
- Buch: Architektonische Grundbegriffe und Ausbildung.
Für letztere forderte er handwerkliche und geistige Kenntnisse (u.a. Mathematik, Geschichte, Musik und Philosophie). Über diesen Ansatz ermöglichte er den Architekten der Renaissance, sich aus der Bauhüttentradition zu lösen. Für ihn kam der Architektur das Primat unter den bildenden Künsten zu. Dies Verständnis galt bis in die Anfänge des 20. Jhs.. (Der Architekt schuf Gesamtkunstwerke, dem die anderen Kunstgattungen zuarbeiteten).
Für die Beurteilung der Architektur verlangte er darin 3 Hauptkriterien:
- Festigkeit
(Firmitas = bauliche Qualität in Hinblick auf die Raumkomposition, Statik und die Baumaterialien),
- Zweckmäßigkeit
(Utilitas = Funktionalität der Nutzung und der Abläufe),
- Anmut
(Venustas = Ästhetische Anforderung, Schönheit. Für diese gibt er 6 Grundforderungen an:
- Buch: Die Entstehung der Architektur und die Baumaterialien.
Die ersten Bauten entwickelten sich nach Vitruv als Schutz des Menschen vor den Naturgewalten. Die Architektur ist dabei als erste Kunst entstanden. Ihr steht deshalb das Primat unter den Künsten zu.
- Buch: Über den Tempelbau.
Es enthält u.a. eine Proportionslehre. Vitruv leitet darin die Proportionen zum einen vom menschlichen Körper ab und setzt diese dann zu den geometrischen Grundformen Kreis und Quadrat in eine Beziehung. Aus diesen Überlegungen hat man später die "Vitruvianische Figur" entwickelt (u.a. von da Vinci, mit dem Nabel eines Körpers als Mittelpunkt). Eine "vollkommene Zahl ist für ihn die "10" (entsprechend der Zahl der Finger. Deshalb auch die Zehnerzahl seiner Bücher). In der Architektur ergeben sich daraus Grundforderungen für das Verhältnis der Teile untereinander (auf der Basis eines gemeinsamen Grundmaßes). Für Vitruv sind Proportionen vom menschlichen Körper abgeleitete Erfahrungswerte, Zahlenverhältnisse und keine ästhetischen Ausdrucksformen! Sie ergeben sich für ihn aus den Symmetrien. Ein Bauwerk ist danach ein System von diesen. Dreierlei ist dabei zu beachten:
- das Verhältnis der Teile untereinander,
- ihr Bezug zu einem dem Bauwerk zugrundeliegenden Modulus,
- ihre Beziehungen zu den Körpermaßen des Menschen.
- Buch: Säulenordnungen und Tempeltypen.
(Vitruv gibt nur für die verschiedenen Tempeltypen konkrete Proportionszahlen an. Er kannte noch keinen Kanon für die Säulenordnungen, wie er seit der Renaissance bestand. Dieser wurde erst von Alberti geschaffen).
- Dorische Säule:
Ausgehend von einem männlichen Körper von 6 Fuß Höhe. Ihre Höhe beträgt das 6-fache ihres Durchmessers (einschließlich der Kapitelle).
- Ionische Säule:
Ausgehend vom weiblichen Körper. Ihre Höhe beträgt das 8-fache ihres Durchmessers.
- Buch: Kommunalbauten (besonderes Theaterbau),
- Buch: Privatbau,
- Buch: Baumaterialien und Farbenlehre.
Die letzten drei Bücher beschäftigen sich mit Themen des damaligen Ingenieurwesens, das zu Vitruvs Zeiten noch Teil der Architektur gewesen war:
- Buch: Über den Wasserbau (z.B. die Qualität des Wassers und den Leitungsbau).
- Buch: Über die Zeitmessung (u.a. die Sternbilder, Navigation und die Zeitmessung).
- Buch: Über Maschinen (besonderes über ‚Wasserhebemaschinen und Geräte im Kriegswesen: z.B. dem Angriff, der Belagerung und der Verteidigung).
Vereinfacht ausgedrückt sind seine Hauptforderungen:
- Orientierung der Baukunst an den Größenverhältnissen des menschlichen Körpers,
- Beachtung der Proportionen seiner Einzelelemente in Hinblick auf deren Harmonie im Gesamtbauwerk.
Die Bedeutung Vitruvs ergibt sich
- aus der Kanonisierung seiner Werke seit der Renaissance.
(Alle "Bauregeln" der Renaissance und des Barocks beziehen sich direkt oder in der Auseinandersetzung mit seinen Angaben auf ihn. Da diese oft mehrdeutig sind, erlaubten sie den damaligen Architekten viele Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung).
- aus seinen Bauangaben für das Verständnis antiker Bauwerke.
Vitruvs Absicht war es mit Hilfe seiner Schrift
- beim Kaiser für eine stärkere Beachtung seiner Person zu werben,
- klare Begriffsdefinitionen für den Baubereich zu liefern
(Was er nicht leistete. Gerade seine vielen Mehrdeutigkeiten erlaubten es den Architekten der Renaissance, seine Texte in ihrer jeweils persönlichen Interessenlage auszulegen).
- den Bauherren ein Bauen ohne Architekten zu ermöglichen.
(Bzw. ein besseres Verständnis für die Bauvorgänge zu erhalten).
Seit der Renaissance baute das architekturtheoretische Schrifttum auf ihn oder setzte sich mit ihm auseinander.
Versuche der Einengung des Einflusses der Lehre Vitruvs gab es schon sehr früh (allerdings zunächst nur mit einem geringen Erfolg): Durch
- Trissimo (1478 - 1550, Humanist):
Er schätzte zwar Vitruv sehr, stellte aber einen veränderten Kriterienkatalog für die Architektur auf, in dem das menschliche Wohnen im Vordergrund stand (u.a. die Bequemlichkeit und die private Sicherheit). Der Architekt habe auch für das Vergnügen der Hausbewohner zu sorgen. (Tressima lernte u.a. 1536 Palladio kennen. Er gab ihm dessen Künstlernamen, abgeleitet von Pallas = Göttin der Weisheit).
- die "trientinischen Reform" nach dem Trienter Konzil (1545 - 63).
Danach forderte die katholische Kirche, dass sich die Architektur und die Künste übergeordneten Kriterien zu unterwerfen haben.
- die Aufspaltung des Architektenberufes.
Zunächst durch die Trennung der Architektentätigkeit von der des Ingenieurs, der Zivilarchitektur vom Festungsbau. Noch bis tief in dem Barock kamen viele bedeutende Architekten in Deutschland (u.a. Welsch) aus den Militärbereich, dem ursprünglich auch Vitruv angehört hatte. Später dann die Trennung der Gartenkunst von der Bauarchitektur (z.B. Vignola, Le Nôtre).
Vitruvtexte:
"Die Bildung des Baumeisters ist mit mehreren Wissenschaftszweigen und mannigfachen Elementarkenntnissen verbunden, da durch sein Urteil alle von den übrigen Künsten geleisteten Werke erst ihre Billigung finden müssen. Diese Architektenbildung entspringt zunächst aus zwei Faktoren, aus der Praxis und aus der Theorie. Die Praxis ist die immer und immer wieder überlegte Erfahrung, durch welche mit Handarbeit etwas aus einem Stoff, von welcher Art immer er zu dem vorgesetzten Gegenstande der Darstellung nötig ist, hergestellt wird. Die Theorie aber ist es, welche das handwerkmäßig Hergestellte durch inneres Verständnis und auf Grund der Verhältnisgesetze erklären und erörtern kann" (1. Buch, 1. Kapitel).
"Die Anlage der Tempel beruht auf symmetrischen Verhältnissen, deren Gesetze die Baukünstler aufs sorgfältigste innehaben müssen. Diese aber entstehen aus dem Ebenmaß (Proportion), welches von den Griechen Analogia genannt wird. Proportion ist die Zusammenstimmung der entsprechenden Gliederteile im gesamten Werk und des Ganzen, woraus das Gesetz der Symmetrie hervorgeht. Denn es kann kein Tempel ohne Symmetrie und Proportion in seiner Anlage gerechtfertigt werden, wenn er nicht, einem wohlgebildeten Menschen ähnlich, ein genau durchgeführtes Gliederungsgesetz in sich trägt" (3. Buch, 1. Kapitel).
"Wenn daher die Natur den Körper des Menschen so gebildet hat, dass die Glieder seiner ganzen Gestalt in bestimmten Verhältnissen entsprechen, so scheinen die Alten mit Grund es so festgesetzt zu haben, dass sie auch bei der Ausführung von Bauwerken ein genaues Maßverhältnis der einzelnen Glieder zu der ganzen äußeren Gestalt beobachten. Wie sie daher bei allen Bauwerken Ordnungsvorschriften überlieferten, so taten sie es besonders bei den Tempeln der Götter, bei welchen Werken Vorzüge und Mängel ewig zu sein pflegen" (3. Buch , 1. Kapitel).
"Wenn man also einig ist, dass die Zahl nach den Gliedern der Menschen erfunden worden sei und dass von den gesonderten Gliedern ein der gesamten Körpergestalt entsprechendes Maßverhältnis eines bestimmten Teiles bestehe, so folgt daraus, dass wir diejenigen bewundern müssen, welche auch bei der Errichtung der Tempel der unsterblichen Götter die Glieder ihres Werkes so geordnet haben, dass durch Proportion und Symmetrie ihre Gliederung gesondert und im ganzen betrachtet sich einheitlich entwickelte" (3. Buch, 1. Kapitel).
"Die Himmelsgegend aber, welcher die Tempel der unsterblichen Götter zugewendet sein sollen, ist so zu bestimmen, dass, wenn kein Grund hinderlich und die Verfügung frei ist, der Tempel und das Götterbild, welches in der Celle aufgestellt sein wird, nach der ‚Abendseite des Himmels hin sehe, damit diejenigen, welche opfernd oder zu einer anderen religiösen Handlung an den Altar herantreten, in der Richtung nach der Ostseite des Himmels das Götterbild, welches im Tempel sein wird, schauen, und so sollen auch die, welche Gelübde machen, gegen den östlichen Himmel blicken; und die Götterbilder selbst dürfen dann, im Osten sich erhebend, auf die Betenden und Opfernden den Blick zu richten scheinen, weshalb es notwendig erscheint, dass alle Altäre der Götter gegen Osten gerichtet seien" (4 .Buch, 5. Kapitel).
Quellen
- Kruft, Hanno-Walter "Geschichte der Architekturtheorie", München 1985
- Pevsner /Honour/Fleming "Lexikon der Weltarchitektur", München 1992
- Vitruv "De architectura libri decem", Übersetzt von Dr. Franz Reber, Wiesbaden 2004
Mögliche Illustrationen
- Da Vinci "Vitruvianische Mann,
- Corbusier "Modulor",
- Sckell "Tempel im Englischen Garten".